Wiener Zeitung
Wer heute die Welt verbessern möchte,
denkt nicht mehr an Politik
Sonntag, 9. Jänner 2011
Wiener Zeitung vom 8.1. 2011von Franz Zauner Viele Räder stünden still, sollten sie einmal die Lust verlieren: Jene gut 100 Millionen Europäer, die ohne Bezahlung das Leben ihrer Mitmenschen bereichern. Die EU hat gleich zwei gute Gründe, 2011 zum "Europäischen Jahr des Ehrenamtes" zu erklären: Der Altruismus hat sich im Zeitalter der Ich-AGs entgegen allen Prognosen gut behauptet. Und er kostet die Staaten nicht nur nichts, er spart auch viele Milliarden Euro. Müsste man allein in Österreich den Freiwilligen ihre Arbeit vergüten, wären 440.000 Vollzeit-Arbeitsplätze einzurichten. Da erscheint es höchst angebracht, dass die Politik den Hut zieht und auf allen Geigen spielt: "Die Freiwilligentätigkeit stellt eine bereichernde Lernerfahrung dar, ermöglicht den Erwerb sozialer Fertigkeiten und Kompetenzen und trägt zur Solidarität bei", heißt es in Begleitpapieren zum Jubeljahr. Und Viviane Reding, EU-Kommissarin für Justiz, Grundrechte und Unionsbürgerschaft, bedankt sich artig beim Volk, dass sich so viel Freizeit nimmt, um "unsere Welt lebenswerter zu machen". Trotzdem ist eine Strukturschwäche der Freiwilligkeit kaum zu übersehen: Aus der Topografie der Ehrenämter ragen Kultur, Sport, Gesundheit, Religion, Feuerwehr und Rettung statistisch heraus. Politisches Engagement hingegen fehlt in den Aufzählungen nahezu vollständig. Am häufigsten wird die "Agenda 21" genannt, ein Weltverbesserungsprojekt der UNO. Es wurde vor bald 20 Jahren ins Leben gerufen, um die Weisheit der Massen vor Ort in den Kommunen für die Politik zu gewinnen. Die von ganz oben kommende Initiative hat einige stolze Vorzeigeprojekte hervorgebracht. Ein Massenphänomen ist nicht daraus geworden. Auch plebiszitäre Experimente wie zum Beispiel "Bürgergutachten", die über simple Befragungen hinausgehen, indem sie Bürger zu bestimmten Themen ernsthaft und intensiv einbinden, haben Seltenheitswert. Neue Initiativen im Internet (Stichwort E-Partizipation) werden wohl noch eine Weile brauchen, bis sie bemerkt werden. Politik ist zwar allgegenwärtig, aber nicht populär. Die Arbeit, die in politischem Engagement steckt, wird höchstens im historischen Rückblick als gesellschaftliche Bereicherung wahrgenommen. Zu ihren Lebzeiten standen die unbezahlten Vorkämpfer für die Pressefreiheit oder das Frauenwahlrecht vermutlich auch nicht auf einer Beliebtheitsstufe mit barmherzigen Samaritern. Zum einen verheißt politisches Engagement auch an der Basis nichts anderes als das Bohren dicker Bretter, ist der Verzweiflung also näher als dem Triumph. Zum anderen stehen die Freiwilligen einem hermetischen Politikbetrieb gegenüber, der auf Fragen der Mitbestimmung oft genug bloß rhetorisch antwortet. So bleibt das wichtigste Denkmal, das die Demokratie ihren Freiwilligen derzeit setzen könnte, jenes des unbekannten Demonstranten. [ zurück ]
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- Von wegen freiwilliges politisches Engagement fehle:
von gretl carney am 2011-01-11 um 15:57 Uhr - Wo fängt Politik an, wo hört sie auf? Was früher Frauenwahlrechtsbewegung oder Gewerkschaften darstellten, verkörpern heute die globalen "Massen" rund um Attack, Umweltbewegungen, nicht zu vergessen, die österr. Tierschützer, die als Terroristen angeklagt sind.
Na, wenn das keine politische Kategorie ist...
Die Zivilgesellschaft engagiert sich permanent politisch in Bürgerinitiativen, Vereinen etc.
"Freiwlliges Engagement" vermisse ich in der Politik, die nur sehr zögerlich diesen beherzten BürgerInnen ein geeignetes Instrumentarium der Mitbestimmung zur Verfügung zu stellen bereit ist. - Bürgerliche Freiwilligenarbeit
von Lisa Natterer am 2011-01-10 um 17:05 Uhr - Ganz so wie Herr Zauner sehe ich das nicht. Engagierte BürgerInnen haben in den letzten Jahren wohl im ganzen Land gezeigt, daß sie nicht mehr hinnehmen, daß die Politik einsame Entscheidungen trifft, ohne genügend Gefühl dafür zu haben (oder spüren zu wollen), was sein Wählervolk braucht und will.
Einige dieser Initiativen waren höchst erfolgreich und haben verhindert, was schon so gut wie fixiert war, von umweltblinden Experten für gut befunden, von Lobbyisten schöngeredet und Lokalpolitikern verharmlost
worden war.
Die steigende Anzahl solcher Gruppen beweist wohl, daß es nicht nur noch immer engagierte BürgerInnen gibt, sondern diese auch Zivilcourage haben, eine Menge Zeit (und auch Geld) dafür aufbringen, um manches zu verhindern, das sehr oft auch einen Verlust von allgemeinem Kulturgut, ja öffentlichem Besitz bedeuten würde.
Viele dieser Gruppierungen sind nicht bloß 'Demonstranten' oder Querulanten, sehr oft haben sie gute Ideen, die sie einbringen und die nicht nur Erhaltenswertes bewahren, sondern damit auch neue Chancen eröffnen.
Und insgesamt sehe ich das sehr wohl als freiwillige Politik-Arbeit an.