AKT!ON 21

Zitieren ja – aber richtig!


Sonntag, 10. Juli 2022

"Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche.“ Dieses Zitat halten Hochhausbefürworter immer wieder Verteidigern des kulturellen Welterbes entgegen.

Mit der Zuschreibung an Gustav Mahler gebärden sie sich zudem auch historisch kulturbewusst. Das Welterbe der Wiener Innenstadt beruht nicht unwesentlich auf der Bedeutung Wiens für die internationale Musikwelt, die mit dem gesamten Erscheinungsbild der Stadt untrennbar verbunden ist. Da käme ja den Hochhausbefürwortern ein solches Bekenntnis Gustav Mahlers für den Fortschritt und gegen Althergebrachtes sehr gelegen: seht, Ihr verknöcherten Bewahrer alter Kulturgüter, sogar ein so bedeutender Repräsentant von Wiens historischer Kultur war durchaus fortschrittlich eingestellt und hätte sicher nichts gegen Hochhäuser im historischen Ensemble von Wien gehabt!


Pech für solches Triumphgeheul: das Zitat stammt nicht von Gustav Mahler. Es stammt vom sozialistischen Abgeordneten Jean Jaurès, der es im französischen Parlament in einer Antwort an konservative Abgeordnete verwendet hat um zu zeigen, dass eine Verehrung einer glanzvollen Vergangenheit nicht Stillstand der Entwicklung bedeuten muss, sondern dass man aus den Herden der Vorfahren die Flamme und nicht nur die Asche holen sollte. Keinesfalls wollte er damit ausdrücken, dass Neues auf Kosten des Alten oder gar stattdessen geschaffen werden sollte, im Gegenteil: das Neue sollte vom Alten inspiriert werden.
Wir leben in einer Zeit der Uminterpretation von allem und jedem, vor allem dem, das einigen Mächtigen im Weg steht, und von Fälschungen, deren sich ihre Steigbügelhalter als Aufstiegshilfen bedienen. Da wandern Zitate je nach Belieben von Mund zu Mund und werden Hochhausklötze zu Denkmälern einer Baukultur, die zum Welterbe der Wiener Innenstadt passt wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge.

Helmut Hofmann

(Fortsetzung folgt: Hochhausphobie? – Wer fürchtet denn diese rückschrittliche Bauform?)