AKT!ON 21

Die Reife des Volkes


Freitag, 23. August 2019

Immer wenn in der öffentlichen Diskussion das Gespenst einer Bürgerbeteiligung in der Gestalt von Volksabstimmungen auftaucht, heißt es reflexartig, die Menschen seien dafür noch nicht reif.

Als wären die von ihnen gewählten Abgeordneten keine Menschen, denn irgendwer, der letzten Endes entscheidet, sollte diese Reife ja doch haben. Und wem diese Reife fehlt, dem wird sie wohl auch bei der Beurteilung dieser Reife bei jenen fehlen, die in einer Demokratie per Stimmzettel darüber entscheiden müssen, wer solche Reife besitzt. So fadenscheinig der Einwand der mangelnden Reife ist, so einfach ist er zu widerlegen.

Es gibt eine neue Spielart von Neokolonialismus, die demokratisch unterentwickelten Völkern An- und Abschauungsunterricht über höherentwickelte Demokratie gibt. Dabei wird demokratische Entwicklung nicht mit wirtschaftlicher gleichgesetzt, im Gegenteil. So meint kein geringerer als Paul Lendvai, Nestor des politischen Journalismus, in der Tageszeitung DerStandard, „Wir haben jetzt die Diktatoren und die Politclowns“ zu denen er in einem Atemzug Boris Johnson und Donald Trump zählt. Tatsächlich gibt es Völker, die Kabarettisten und Clowns an die Spitze ihrer Regierungen hieven und die keine Ahnung haben, was sie der Welt, vor allem der politisch hochentwickelten wie der unsrigen, damit antun. Völker, die sich nicht entblöden, wahnsinnigen Populisten wie Trump oder Johnson auf den Leim zu gehen, einen brandgefährlichen Möchtegerndiktator wie Erdogan mit absoluter Mehrheit auszustatten oder einen professionellen Kabarettisten wie Pepe Grillo an die Regierungsmacht zu spülen. Das sind nicht irgendwelche unbedeutenden Kleinstaaten, nein: das sind Staaten, die zu den bedeutendsten nicht nur Europas, sondern der gesamten demokratischen Welt zählen. Also alles klar: wenn schon solche Länder nicht die nach Meinung österreichischer Politiker und Partizipationsskeptiker nötige Reife für Volksentscheide mitbringen, um wieviel weniger kann man dies von den Österreichern erwarten, die zwar nicht eben mit den verheerenden Folgen von Plebisziten – auch Wahlen sind nämlich Plebiszite – zu kämpfen haben, aber nach Meinung von Plebiszitskeptikern in ihrer kurzen Demokratiegeschichte doch nicht jene Reife entwickelt haben können, die in den Mutterländern der neuzeitlichen Demokratie, in den USA oder in Großbritannien vorherrscht, zahlreiche „Einzelfälle“ natürlich ausgenommen.

Für klar Denkende erhebt sich allerdings die Frage, warum man Österreichern nicht zutrauen könne, was unserem westlichen, die gleiche Sprache sprechenden, in ähnlicher Landschaft lebenden, kulturell sehr ähnlichen und wirtschaftlich ebenfalls sehr erfolgreichen Nachbarvolk ohne zu zögern zugestanden wird. Für besonders Skeptische sei gesagt: es muss ja nicht gleich so extrem sein wie in der Schweiz, wo gegen oder ohne das Volk nichts geht. Es könnte ja mit einem bescheidenen Beginn langsam, sozusagen Stück für Stück, jene Demokratie der Zukunft eingeführt werden, an der ohnedies kein Weg vorbeiführen kann, wenn diese Staatsform nachhaltig das politische Geschehen in unserem Land bestimmen soll.

Des scheinbaren Rätsels Lösung: die immer wieder – entgegen offiziellen Wortspenden der politischen Parteien – geäußerte Bürgerbeteiligungsskepsis hat einen handfesten Grund. Sie gilt ja nur der Volksabstimmung, und zwar jenen Ergebnissen, die einer politische Seite nicht in ihren Kram passen. Und da man solche Ergebnisse nicht vorhersehen kann, gibt man sich generell skeptisch. Das lässt alle Türen offen: kommt es gegen den hinhaltenden Widerstand doch einmal zu einem Plebiszit, oder wird dieses von der Verfassung verlangt, wie im Fall des EU-beitritts, und passt das Ergebnis, ist man dem Plebiszit zugetan, war man ja immer schon für diese begrüßenswerte Form der Demokratie. Stimmt es nicht, kann man sagen: wir haben ja immer schon gesagt, das Volk ist nicht reif genug, richtig zu entscheiden. Mit „richtig“ ist in einem solchen Fall immer die politische Sicht der unterlegenen Seite gemeint. Das gilt im übrigen auch für Wahlen, die man zähneknirschend dulden muss, weil Demokratie ohne solche überhaupt nicht funktionieren kann. Da wird dann analysiert und analysiert, bis sich die Parteien mit Mandatsverlusten als die wahren Wahlsieger entpuppen und die Mandatsgewinner als Wahlverlierer hingestellt werden.

In der Zeit des „kalten Krieges“ gab erzählte man sich in den Ostblockstaaten folgenden Witz: „Ein Länderkampf USA gegen UdSSR endet mit einem Sieg der USA. Die Pravda schreibt tags darauf: „Die Mannschaft der UdSSR belegte einen ehrenvollen zweiten Rang. Die Mannschaft der der USA wurde vorletzte.“

Helmut Hofmann